Über das Stück
Ich produziere Abfall, also bin ich. Egal wo wir sind oder was wir machen, es fällt etwas ab und wir hinterlassen etwas. Heutzutage sortieren wir diese Hinterlassenschaften in schwarze, grüne, braune Tonnen und gelbe Säcke und haben damit unseren Beitrag geleistet. Aus den Augen, aus dem Sinn. Aber was passiert danach mit dem, was wir hinterlassen haben? Jeden Tag sind Menschen in orangefarbener Arbeitskleidung in der Stadt unterwegs und kommen zu uns nach Hause, damit wir möglichst schnell, unauffällig und reibungslos von dem befreit werden, was in unserem alltäglichen Leben abfällt. Eine Arbeit, die so sehr zu unserer Realität gehört, dass wir manchmal vergessen, dass sie Tag für Tag getan wird. Eine Arbeit, die dann auffällt, wenn sie ausfällt. Eine Arbeit, die das gesamte Bild einer Stadt prägt und die jede einzelne Person einer Stadtgesellschaft betrifft. Eine Arbeit, die man am Körper spürt und die es überall auf der Welt gibt.
In “Out of Sight” geht LOKSTOFF! in Kooperation mit der Abfallwirtschaft Stuttgart den Wechselwirkungen von Abfall und Gesellschaft auf den Grund und wie das, was wir als vermeintlich unnütz hinterlassen, eng mit dem verbunden ist, was wir zu sein glauben. Die Performance auf dem Betriebshofgelände der AWS in Stuttgart Stöckach lädt dazu ein, sowohl über tiefere gesellschaftliche Zusammenhänge als auch die sehr konkrete alltägliche Arbeit der Menschen in Orange nachzudenken.
Team + Dank
Regie: Wilhelm Schneck
Text: LOKSTOFF!
Dramaturgie: Paulina Mandl, Werner Kolk
Ensemble: Kathrin Hildebrand, Irfan Kars, Gözde Kül, Natanaël Lienhard und Mitarbeitende der AWS
Choreographie: Esteban Moisés Amaya Bustos
Musik: Benedikt Immerz und Denis Krnjaic
Ausstattung/Kostüme: Maria Martínez Peña
Produktionsleitung: Nicola Merkle
Technik: Oliver Cordes
Vocal Coach: Simon Kubat
Film: Adrian Schmidt
Regieassistenz: Carla Kleffner
Ausstattungsassistenz: Katharina Weis
Wir bedanken uns ganz herzlich beim Jungen Ensemble Stuttgart für die Nutzung des Proberaums!
Rien ne se crée, rien ne se perd,
tout se trandsforme.
Nichts entsteht, nichts geht verloren,
alles verwandelt sich.
Antoine Lavoisier zugeschrieben
Müllgeschichte
Was ist Müll?
Kunst liegt bekanntermaßen im Auge des Betrachters, und mit Müll ist es nicht viel anders. Mitunter sind die Grenzen fließend, etwa als ein Hausmeister 1982 Joseph Beuys’ berühmte, aber schon lange ranzig gewordene »Fettecke« entfernte. Genauso wie es keine »objektiven« Kriterien für Kunst gibt, gibt es keine »objektiven« Kriterien dafür, was als Müll zu behandeln ist.
Nutzen
Für vormoderne Gesellschaften bis ins 18. Jahrhundert war Abfall stets eine relative Kategorie, denn es gab kaum etwas, was sich nicht wieder in etwas Nützliches verwandeln ließ. Eine entscheidende Wendung hin zu unserer heutigen Welt der Müll-Lawinen und Megadeponien lässt sich eher um die Wende zum 20. Jahrhundert beobachten: Die Grenzlinie zwischen nützlichen und nutzlosen Dingen wurde nach und nach neu gezogen.
Platz
Ein anderer grundlegender Aspekt besteht darin, dass Müll Platz wegnimmt. Diese Probleme verschärften sich mit dem globalen Städtewachstum seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zumal man während des 19. Jahrhunderts anfing, den Zusammenhang zwischen urbaner Hygiene und Ausbreitung von Epidemien besser zu verstehen. Insofern bedingte der Urbanisierungsschub die Geburt einer Institution, die wir heute als selbstverständlich erachten: der Müllabfuhr. Das Hauptanliegen lag nicht mehr darin, Abfälle zu verwerten, sondern die BürgerInnen vor Gestank und Krankheiten zu schützen.
Schmutz
Abfall ist nicht nur tendenziell nutzlos und nimmt Platz weg. Vielmehr verstört er Auge und Nase, verwest und fermentiert. Der Ekel spielt eine wichtige Rolle, ob wir etwas zu Müll erklären oder nicht. Den öffentlichen Raum sauber und von Abfällen frei zu halten sollte Infektionskrankheiten wie die Cholera verhüten, zugleich aber auch die soziale Existenz der Menschen ganzheitlich heben. Die Wahrnehmung des Abfalls verschob sich seit den 1960er- Jahren. Zunehmend wurde das Problem nicht mehr im Schmutz und im Geruch gesehen. Bei einem Müll, der voll mit Plastik und Chemikalien war, wurde es vielmehr gerade dann gefährlich, wenn etwas nicht stank. Um die Natur vor dem Müll zu schützen, schien eine grundlegende Veränderung der Wirtschaftsweise insgesamt notwendig zu sein. Dieser Aspekt bestimmt die Debatten seit den 1960er-Jahren, ohne dass wir hier einen entscheidenden Schritt weiter gekommen wären.
Schluss
Müll ist heute der Inbegriff dessen, was sich als eine freudianische Interpretation des modernen Kapitalismus beschreiben ließe. Wir können den Müll sammeln, wegschaffen, deponieren, verbrennen: Los werden wir ihn damit nicht. Vielmehr kehrt er in Form von Schadstoffen und Chemikalien in unsere Lebenswelt zurück, lagert sich als Mikroplastik in unserem Blut und diversen Organen ab. Die zunehmend komplexe Materialität des Mülls erschwert nicht nur seine Rückführung in Produktlebenszyklen, er bedroht die Unversehrtheit der Natur und die Integrität unserer Körper. Erst wenn genauer verstanden wird, wie Umweltbelastung mit unserer Wirtschaftsweise zusammenhängt, lassen sich bessere Debatten führen. Vielleicht ist der Müll, gerade weil wir von seiner Materialität nicht sinnvoll abstrahieren können, ein besonders geeignetes Vehikel, um der naturprägenden Wirkung menschlichen Handelns genauer auf den Grund zu gehen.
Aus: Roman Köster, Alles Müll, oder was?
Eine kleine Naturgeschichte. Hamburg 2024
Müll und Literatur
Italo Calvino, Die Mülltonne
Die einzige Hausarbeit, die ich mit einer gewissen Kompetenz und Befriedigung verrichte, ist das Hinausschaffen des Mülls … So kommt es, dass ich in dem Moment, in dem ich die Mülltonne hinaustrage, in eine soziale Rolle schlüpfe, die für das kollektive Zusammenleben entscheidend ist, und damit meine Abhängigkeit von den Institutionen beglaubige, ohne deren Fürsorge, ich unter dem eigenen Unrat begraben würde. Das Hinaustragen der Mülltonne muss unter zwei Aspekten interpretiert werden: als Erfüllung einer Vertragspflicht und als Ritus der Reinigung, Ausscheidung der Abfälle meines Selbst; entscheidend ist, dass ich mit dieser meiner täglichen Geste die Notwendigkeit bekräftige, mich von einem Teil dessen, was mein war, zu trennen, die Hülle oder Larve oder ausgedrückte Zitrone des gelebten Lebens abzuwerfen, um seine Substanz zurückzubehalten und mich am nächsten Morgen wieder vollständig mit dem identifizieren zu können, was ich bin und habe. Nur wenn und indem ich wegwerfe, kann ich sicher sein, dass etwas von mir noch nicht weggeworfen worden ist und vielleicht nie weggeworfen werden muss.
Die Befriedigung, die ich dabei empfinde, ist mithin analog zu derjenigen, die man bei der Defäkation hat, wenn man spürt, wie der Darm sich entleert, wenn ich wenigstens momentan das Gefühl habe, dass mein Körper nichts anderes enthält als mich selbst und dass es keine mögliche Vermischung mehr gibt zwischen dem, was ich bin, und dem, was mir unwiderruflich äußerlich ist.
Wenn das aber stimmt, wenn das Wegwerfen die erste unverzichtbare Bedingung des Seins ist, weil man immer das ist, was man nicht wegwirft, dann ist der erste körperliche und geistige Akt die Trennung zwischen dem, was von mir bleibt, und dem, was ich auf Nimmerwiedersehen in ein Jenseits dahinfahren lassen muss.
Diese tägliche Darstellung des Abstiegs in die Unterwelt, dieses häusliche und städtische Begräbnis des Mülls ist demnach in erster Linie dazu gedacht, das Begräbnis der Person in die Ferne zu rücken, es aufzuschieben, wenn auch nur ein wenig, um mir zu bestätigen, dass ich noch einen weiteren Tag Produzent von Abfällen gewesen und nicht selber Abfall bin.
Daher die zugleich düstere und euphorische Stimmung, die sich mit dem Abtransport des Mülls verbindet; derentwegen die Müllwerker, die vorbeikommen, um den Müll in ihre malmenden Wagen zu kippen, uns als Engel erscheinen, unverzichtbare Mittler zwischen uns und dem Himmel, in dem wir uns unverdienterweise wiegen und der nur fortbestehen kann, wenn wir nicht unter dem Müll begraben werden, den jeder Akt des Lebens unaufhörlich produziert. Befreier vom Gewicht des Schutts der Zeit, schwarze und schwere Engel der Klarheit und Leichtigkeit.
Es genügt schon, dass ein Streik der Müllabfuhr ein paar Tage lang den Abfall vor unseren Türen sich aufhäufen lässt, und die Stadt verwandelt sich in eine stinkende Müllgrube …
Die Mülltonne ist das Instrument, das mir erlaubt, mich in eine Harmonie einzufügen, mich in Einklang mit der Welt zu bringen und die Welt in Einklang mit mir.
Aus: Italo Calvino, Die Mülltonne und andere Geschichten. München 1994
Walter Benjamin, Angelus Novus
Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt.
Paul Klee, Angelus Novus
Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.
Aus: Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte
Don DeLillo, Unterwelt
Detwiler [der Müll-Archäologe] erklärte uns, dass die Städte Zentimeter um Zentimeter auf dem Müll wuchsen, über die Jahrzehnte an Höhe gewannen, je mehr Abfall vergraben wurde. Müll war immer übereinandergeschichtet oder an die Ränder geschoben worden, sei es in einem geschlossenen Raum oder in der Landschaft. Aber er hatte auch seine eigene Dynamik. Er schob zurück. Er schob sich in jeden verfügbaren Zwischenraum, diktierte Baumuster und veränderte Ritualsysteme. Und er brachte Ratten und Paranoia hervor. Die Menschen waren gezwungen, eine organisierte Reaktion darauf zu entwickeln. Das heißt, sie mussten sich findige Wege der Beseitigung einfallen lassen und eine Sozialstruktur für die Ausführung aufbauen – Arbeiter, Manager, Müllmänner, Straßenkehrer. Die Zivilisation wird aufgebaut, die Geschichte angetrieben. So redete er, talkshowmäßig, konzentriert, einstudiert, unverbindlich verbindlich. Er war eine Müllhyäne, auf der Suche nach Buchverträgen und Dokumentarfilmen, und ich glaube, es war ihm egal, ob ihm zwei Leute zuhörten oder eine halbe Million. »Bei uns läuft nämlich alles umgekehrt«, sagte er.
Die Zivilisation wuchs und blühte nicht etwa dadurch, dass Männer Jagdszenen auf Bronzetore hämmerten und unter dem Sternenhimmel Philosophisches flüsterten, während Müll als widerliche Nebenerscheinung betrachtet wurde, wisch und weg. Nein, zuerst wuchs der Müll und regte die Menschen an, eine Zivilisation aufzubauen – als Reaktion, als Selbstverteidigung. Wir mussten Wege finden, um unseren Müll loszuwerden, um zu nutzen, was wir nicht loswerden konnten, wiederzuverarbeiten, was wir nicht nutzen konnten. Der Müll schob zurück. Er türmte sich auf, breitete sich aus. Und er zwang uns dazu, jene Logik und Unerbittlichkeit zu entwickeln, die systematische Untersuchungen der Wirklichkeit ermöglichte, Wissenschaft, Kunst, Musik, Mathematik. Die Sonne ging unter.
»Glauben Sie das wirklich?«, fragte ich. »Worauf Sie einen lassen können. Das lehre ich an der UCLA. Ich bringe meine Studenten auf Müllhalden und mache ihnen die Zivilisation klar, in der sie leben. Konsumier oder stirb. Das ist der Auftrag der Kultur. Und alles endet auf der Halde. Wir erzeugen Wahnsinnsmengen an Müll, und dann reagieren wir darauf, nicht nur technologisch, sondern auch im Herzen, im Kopf. Wir lassen zu, dass er uns formt. Dass er unser Denken kontrolliert. Erst kommt der Müll, dann bauen wir ein System auf, um damit fertigzuwerden.«
Aus: Don DeLillo, Unterwelt. Köln 1998
Thorsten Nagelschmidt, Fell & Matsch
Die Straße ist noch dunkel vom Regen. Drüben im Osten, über dem Treptower Park, zieht der Himmel feine, violettfarbene Schlieren. Ein Blick auf die Uhr: neun Minuten nach sechs. Ihrer Wetter-App zufolge müsste jeden Moment die Sonne aufgehen.
Sie ist schon vor anderthalb Stunden aus dem Haus. Der Wecker stand auf 4:15, wie immer, doch kurz bevor das Ding losbimmeln konnte, um Punkt 4:14, stellte sie den Alarm ab und stand auf. Die Zwillinge lagen friedlich in ihren Bettchen, Ralf hatte sich mit dem Rücken zu ihr jenseits der Besucherritze unter seiner Decke zusammengerollt. Ihr Mann hat diese Woche Spätschicht, da sehen sie sich nur im Bett, einer von beiden immer im Halbschlaf. Sie hat sich leise angezogen und ist auf Zehenspitzen ins Bad, schnelle Katzenwäsche, ein Käffchen im Stehen und dann gleich los zur Firma. Sie mag’s nicht so auf den letzten Drücker, nicht in der Frühschicht. Sie hat dann auch erst beim Frühstück in der Kantine von dem Großbrand gestern Abend gehört. Ein Hotel in Mitte, Riesending, nicht viel übrig und Dutzende Verletzte. Und das Komische ist ja: Wenn man’s erstmal weiß, dann riecht man das auch. So was leicht Verbranntes in der Luft. Dabei hat es vorhin noch geschüttet, und zwar in Strömen. Gab wohl die ganze Nacht die wildesten Spekulationen über die Brandursache, doch anscheinend war’s nur ein Kurzschluss.
Sie war gerade oben in der Einsatzleitung, um die Fahrzeugpapiere für die kleine Kehre zu holen, da hörte der Regen mit einem Mal auf. Watt’n Timing, freute sich der alte Schröter, als sie durch die Pfützen über den Betriebshof watschelten, er und die Kollegen zu ihrem Sammelfahrzeug, sie zu ihrer Küpperweisser.
Nun tuckert sie mit entspannten 24 km/h die Schlesische Straße runter und genießt die Ruhe vor dem Sturm. Oder nach dem Sturm. Diesen kurzen Moment im Zwielicht, nicht mehr Nacht, noch nicht ganz Tag. Ein paar Nachtschwärmer sind noch unterwegs. Übriggebliebene, die sich an den Bushaltestellen und U-Bahnhöfen mit den Frühaufstehern auf dem Weg zur Arbeit mischen.
Rund um den Burger King Ecke Falckenstein ist mal wieder alles zugesaut. Pappbecher, Essensverpackungen, Erbrochenes. Neben der Ampel ein Mülleimer mit aufgetretener Bodenklappe. Auch die Gehwege sind stark verschmutzt. Man sieht, dass gestern schönes Wetter war. Ein paar Meter weiter eine illegale Sperrmüllentsorgung. Koffer, Tischplatten, aufgeweichte Kartons, daneben ein Haufen Baidu-Mietfahrräder, aufgetürmt zu einer bizarren Installation, die mit Sicherheit schon wieder dutzendfach gepostet wurde,#streetart. Die Leute finden’s witzig, oder kultig, echt Berlin eben. Klar, sie müssen den Mist ja auch nicht wegräumen. Sabrina zum Glück auch nicht. Aber an die Einsatzleitung muss sie’s weitergeben, und die muss es ans Ordnungsamt weitergeben, und die müssen dann wen herschicken, der entscheidet, ob das weg kann, und wenn nicht, was dann.
Auf Höhe der ausgebrannten Bürogebäude Ecke Cuvry kommt ihr eine alte Frau auf einem roten Lastenfahrrad entgegen, ein breites Grinsen im Gesicht, als hätte sie gerade eine Erleuchtung gehabt. Langsam rollt sie den Gehweg lang und passiert einen untersetzten Kerl in Lederjacke, der vor einem verschlossenen Späti steht und mit den Fäusten gegen die Tür hämmert: Mensch, was machst du denn da drin, was soll das, jetzt öffne doch mal die Tür, ich seh dich doch …
Keule, mach mal halblang, denkt sie, du bist nicht alleine auf der Welt, auch wenn sich’s vielleicht gerade so anfühlt. Sie weicht einem Taxi aus, das in zweiter Reihe auf der Straße parkt, das Gezeter entfernt sich.
Vor einem der Clubs am Kanal ist irgendwas los. Polizei, Krankenwagen, rotierendes Blaulicht. An der Verkehrsinsel fährt sie rechts ran.
Zwei Sanis rollen jemanden auf einer Trage zu einem der beiden Rettungswagen. Ein Mann redet auf eine blonde Frau im Parka ein, die einen schwarzgekleideten Brechmann mit Handschellen auf dem Rücken zu einem der Streifenwagen führt. An der Längsseite des Gebäudes öffnet sich eine Stahltür. Der Oberkörper eines blutverschmierten Hünen erscheint. Sein Gesicht ist nur noch FuM, wie die Kollegen die lästigen Tierkadaver am Straßenrand immer nennen, Fell und Matsch. Vorsichtig schaut er sich um, dann zischt er leicht geduckt und humpelnd ab Richtung Spree.
Ein Uniformierter kommt auf Sabrina zu. Sie will ihm schon einen Tipp geben, da bedeutet er ihr mit zackigen Armbewegungen, weiterzufahren.
Langsam umschifft sie die Bodenwelle am Ende der ersten Kanalbrücke. Hinter der zweiten Brücke macht sie einen U-Turn, direkt auf der Doppelpflastersteinreihe, die den ehemaligen Mauerverlauf und die Grenze zu Treptow markiert, kleine Angewohnheit auf dieser Tour. Sie schnallt sich ab und nimmt einen Schluck von ihrem Eistee. Die Vögel zwitschern wie verrückt. Klebrig läuft ihr das süße Zeug durch den Hals. Ihre Männer drehen sich wahrscheinlich gerade noch einmal um. Sie verstaut das Tetrapak in ihrem Rucksack.
Dann fällt ihr Blick auf den von Kopf bis Fuß in Leder gekleideten alten Rocker, der gegenüber am Schlesischen Busch steht. Westernstiefel an den Füßen, Cowboyhut auf dem Kopf und Zigarillo im Maul, ganz seltenes Exemplar. Vor ihm, keine zwei Meter entfernt neben der Parkbank, sitzt ein Fuchs. Die beiden scheinen irgendwie miteinander zu kommunizieren, bis das Tier mit einem labbrigen Döner im Maul im Gebüsch verschwindet.
Ein ganz normaler Sonnabendmorgen in Kreuzberg, würde der alte Schröter jetzt sagen, wieder mal nur Bekloppte unterwegs.
Sabrina schaltet das Radio ein, wechselt auf 91.4 und setzt rüber auf den Gehweg. Sie reguliert den Exhaustor auf 1400 Umdrehungen, stellt das Frischwasser auf Automatik, fährt den Schacht und die Besen herunter und macht sich an die Arbeit. Kippenstummel, Kronkorken, Plastikbecher, Hundehaufen, alles verschwindet im gierigen Schlund ihrer Küpperweisser.
Eine zusammengeknüllte Zigarettenschachtel, eine einzelne Socke. Sie wirft einen Blick in den Rückspiegel. Der Abgleich Vorne dreckig, hinten sauber verschafft ihr große Befriedigung, immer noch, nach all den Jahren.
Am Geländer der Brücke hat sich ein durchgeweichter Pizzakarton verfangen. Neben dem Pizzakarton liegt eine tote Ratte. Sie zieht ihre Handschuhe über und steigt aus, reißt den Karton in Streifen und gibt die Fetzen der Maschine zu fressen. Eine Sekunde lang denkt sie an das Prozedere mit dem Meldebogen und der Einsatzleitung und dem Veterinäramt. Dann schiebt sie die tote Ratte mit spitzem Fuß von der Brücke. Ein dumpfes Klatschen, und das Häuflein FuM verschwindet in der trüben Suppe des Kanals.
Aus: Thorsten Nagelschmidt, Arbeit. Frankfurt a. M. 2022
Recherche/Links
Was passiert mit unserem Müll?
www.bpb.de/...
Abfallaufkommen in Deutschland
www.umweltbundesamt.de/...
www.destatis.de/...
Rangliste der 20 umweltfreundlichsten Länder nach dem Environmental Performance Index (EPI) im Jahr 2024
de.statista.com/...
Wichtigste Abnehmerländer für Exporte von Kunststoffabfällen aus Deutschland im Jahresvergleich 2010 und 2023
de.statista.com/...
Export von Plastikmüll ins Ausland
www.destatis.de/...
www.nabu.de/...
www.greenpeace.de/...
de.statista.com/...
www.tagesschau.de/...
So lange braucht Abfall, um zu verrotten
utopia.de/...
Beruf Müllwerker*in
www.youtube.com/watch?v=yEpvjn5PY58
www.youtube.com/watch?v=xR5-RG1MOk4
www.youtube.com/watch?v=9-DgW1RWRWQ
www.spiegel.de/...
Abfallwirtschaft Stuttgart
www.stuttgart.de
Abfallkalender erstellen
service.stuttgart.de/lhs-services/aws/abfallkalender
Wertstoffhöfe Stuttgart
www.stuttgart.de/service/entsorgung/annahmestellen/wertstoffhof.php
Abfall-ABC
www.stuttgart.de/service/entsorgung/abfall-abc/
„Garbage In, Garbage Out.“
Sprichwort
Epilog: Ins Meer
Einer der ersten Fälle, in denen Kunststoffe im Meer zu einem Thema in der Öffentlichkeit wurden, war eher obskur: Der Schriftsteller Aldous Huxley – bekannt durch seinen dystopischen Roman Brave New World – berichtete in den frühen 1960er Jahren, wie er 1938 mit Thomas Mann am Strand von Santa Monica entlangschlenderte. Vertieft in ein Gespräch über Shakespeare wurden sie plötzlich gewahr, dass soweit das Auge reichte, der Strand mit kleinen weißlichen Objekten übersät war, die wie tote Raupen aussahen. In Wirklichkeit waren es aber Millionen benutzter Kondome, an den Strand gespült von Los Angeles’ großem Abflussrohr am Hyperion Beach. Das ist einer der ersten Berichte über die Verschmutzung des Meeres mit Plastikmüll, der aber vor allem sozialgeschichtlich interessant erscheint: Offensichtlich spülten die Leute die Kondome nach ihrem Gebrauch die Toilette herunter und entsorgten sie nicht im Hausmüll. Der Akt sollte offensichtlich keine Spuren hinterlassen ...
Die Knappheit der Güterversorgung ist mehr und mehr geschwunden, doch dafür sind andere Dinge knapp geworden: eine unbelastete Natur, saubere Meere, mithin auch die Flächen und Kapazitäten, um Müll loszuwerden, ohne dass er die Umwelt kontaminiert und die Gesundheit von Mensch und Tier gefährdet. Insbesondere die zunehmende Belastung der Weltmeere mit Plastikmüll zeigt, wie drängend die Probleme sind. Wer daran etwas ändern möchte, sollte nicht auf einfache Lösungen setzen und auch nicht auf den technischen Fortschritt vertrauen: Eine technische Lösung für die Müllprobleme mag früher oder später kommen – etwa in Form umweltverträglicher Verwertungstechnologien bei Plastik. Damit kalkulieren sollte man aber besser nicht. Stattdessen sollte man sich auf harte Debatten einstellen: Müllmengen an der Quelle zu reduzieren heißt – zumindest beim gegenwärtigen Stand der Technik – das Leben für die Menschen teurer, langsamer, unbequemer zu machen. Eventuell trifft das insbesondere arme Menschen, die sich teurere Lebensmittel nur schwer leisten können.
Trotzdem sollte man sich auf diese Debatten einlassen. Um sie besser führen zu können, sollte man sich klarmachen, wie stark Müll mit uns, unserem Alltag und unserer Lebensweise verzahnt ist – und man sollte sich klarmachen, dass die Vergangenheit nicht die Rezepte bereithält, um heute die Müllmengen dauerhaft zu reduzieren. Damit wäre meiner Meinung nach in den gegenwärtigen Diskussionen bereits viel gewonnen.
Aus: Roman Köster, Müll. Eine schmutzige Geschichte der Menschheit. München 2023